von: Markus Gelau
Das Märchen von der Pleite-DDR: ein Mythos, der bis heute nachhaltig die Erzählung stützt, die BRD habe die Bevölkerung der DDR quasi errettet – da diese ohnehin wenig später zusammengebrochen wäre.
Die Gründe dafür sind klar und (wie so viele PR-gestützte Erzählungen) als "Common Sense" in das allgemeine Geschichtsbewusstsein überführt worden: Aufgrund der erdrückenden Schuldenlast eines maroden Wirtschaftssystems und einer Gesellschaft, die ohnehin weder politisch noch sozial lebensfähig gewesen sei, hätte das Ende der DDR kurz bevor gestanden. In einer in der Geschichte einmaligen Solidaritätsaktion habe sich das überlegene westdeutsche System selbstlos des schwächeren angenommen und dessen in diesem dahindarbenden Brüder und Schwestern aus dem politisch und gesellschaftlich rückständigen "Tal der Ahnungslosen" in eine blühende Zukunft geführt.
Nun behaupten kritische Stimmen nach wie vor, dass die Übernahme des souveränen ostdeutschen Staates durch den westdeutschen eine schlichte Annexion gewesen sei – denn das viel zitierte "Selbstbestimmungsrecht der Völker" sei (gerade vor dem Hintergrund zeitgenössischer Geschehnisse) hier niemals respektiert worden oder gar zur Anwendung gekommen.
Fakt ist: Im Gegensatz zu anderen Bevölkerungen (wie z. B. der auf der Krim) fand in der DDR niemals eine Volksabstimmung statt, die über den Beitritt zur BRD entscheiden sollte. Kein DDR-Bürger wurde jemals gefragt, ob er Bürger eines anderen – in vielen Beziehungen gegensätzlichen – Staates werden wolle. Ob er seine (politische und gesellschaftliche) Heimat aufgeben wolle.
Tatsächlich beruht die Legitimation der deutschen Vereinigung (oder – je nach Lesart – der Annexion der DDR durch die BRD) auf den Ergebnissen der letzten Volkskammerwahl der DDR. Die offizielle Lesart macht uns hier klar, dass das Wahlprogramm der aus dieser letzten DDR-Wahl als Siegerin hervorgegangenen CDU ja ohnehin auf der deutschen Wiedervereinigung basierte – die diese dann auch umgehend und im Auftrag ihrer großen westdeutschen Schwester in die Wege leitete.
Wenn man dieser Lesart folgen möchte, haben in dieser Wahl jedoch über 52 % der DDR-Bürger gegen eine – die deutsche Vereinigung einleitende – CDU gestimmt.
An dieser Stelle ist es mir wichtig, eines zu betonen: Dieser Artikel soll ganz sicher nicht dazu dienen, für eine (erneute) Trennung beider deutscher Staaten Partei zu ergreifen. Einzig und allein die Art und Weise der deutschen Wiedervereinigung darf und muss kritisiert werden. Und dazu genügt es bereits, ihre sachlichen und faktischen (aber oft verschwiegenen oder schlicht umgeschriebenen) historischen Umstände genauer zu beleuchten.
Zurück zur DDR-Volkskammerwahl von 1990: Höchst offiziell wurde damals dem DDR-Bürger mitgeteilt, man könne nun auf eine Volksbefragung – eine direkte Volksabstimmung über die Frage der Wiedervereinigung – verzichten. Der Ausgang dieser Wahl und die zur Siegerin gekürte Ablegerin von Helmut Kohls CDU sei Votum genug.
Das stieß schon damals vielen DDR-Bewohnern, aber auch vielen Bürgerrechtlern auf: Waren doch Hunderttausende in den Montagsdemonstrationen des Jahres 1989 nicht für eine Angliederung der DDR an die BRD auf die Straße gegangen, sondern für politische Reformen in der DDR – ihrem Staat, an denen viele großen Anteil hatten, den sie zum Teil gar mit aufgebaut und gestaltet hatten.
Die Freiheitshelden des Jahres 1989, die Träger der (sogenannten) friedlichen Revolution, stürzten bei der Wahl am 18. März 1990 in die absolute Bedeutungslosigkeit. Die DDR-Bürgerrechtler-Gruppen "Neues Forum", "Initiative für Frieden und Menschenrechte" sowie "Demokratie Jetzt" erreichten bei dieser Wahl zusammen nur 2,9 % der Stimmen. Wie war das möglich?
In einer Zeit, in der "Wahleinmischung durch andere Staaten", "Wahlmanipulationen", ja gar die Annullierung demokratischer Wahlen in der EU mit der Argumentation des ausländischen Sponsorings zum politischen Alltag gehören, lohnt es sich, einen kurzen Blick auf den Ablauf und die Begleitumstände der letzten demokratischen Wahl des souveränen Staates DDR zu werfen. Das Fazit darf hier ausnahmsweise am Anfang stehen: Diese "Wahl" wurde klar durch ausländische Einflussnahme manipuliert. Das Ergebnis war Resultat der bis dahin größten Wahlkampagne der deutschen Nachkriegsgeschichte – und eines damit verbundenen riesigen ausländischen Sponsorings.
Ein zentrales Element in der Lenkung des ostdeutschen "Wahlviehs" war die Übernahme und Umdeutung des Slogans "Wir sind das Volk". Ursprünglich war dieser Ruf während der Montagsdemonstrationen 1989 ein Ausdruck des Protests gegen die SED-Herrschaft, verbunden mit dem Ruf nach direkterer Demokratie.
Nach dem Mauerfall wurde er von findigen BRD-PR-Profis in den Slogan "Wir sind ein Volk" umgewandelt, um die Forderung nach Wiedervereinigung zu forcieren. Die CDU verwendete ihn ab Mitte Januar 1990 flächendeckend in der DDR auf Millionen Plakaten und Wahlmaterialien. Diese strategische und massenpsychologische Nutzung des (verfälschten) Slogans trug dazu bei, die öffentliche Meinung in der DDR zugunsten einer schnellen Wiedervereinigung zu beeinflussen – und die neu gegründete Ost-CDU (eine Drohne der BRD-Regierung unter Helmut Kohl) als treibende Kraft dieses Prozesses darzustellen.
Es blieb jedoch nicht bei strategischer Unterstützung. Denn faktisch kann festgestellt werden: Die CDU-Regierung der BRD kaufte die letzte demokratische Wahl in ihrem deutschen Nachbarstaat, der DDR.
Tatsächlich wurde erst fast 30 Jahre nach den Geschehnissen aufgearbeitet, was damals schon offensichtlich war: Die BRD, regiert von der CDU unter Helmut Kohl, butterte fast 8 Millionen D-Mark in den letzten Wahlkampf der DDR. Fast 4 Millionen D-Mark stammten direkt aus den (mehr oder weniger schwarzen) Kassen der West-CDU.
8 Millionen D-Mark sind übrigens (kumuliert inflations- und kaufkraftbereinigt) über 7,5 Millionen Euro.
Die Unterstützung der West-CDU ging jedoch weit über finanzielle Mittel hinaus. Es wurden sogenannte Kreispartnerschaften gebildet, bei denen jeder (!) Landkreis in der DDR von einem westdeutschen CDU-Kreisverband betreut wurde. Zehntausende westdeutsche CDU-Mitglieder nahmen Urlaub, um vor Ort in der DDR den Wahlkampf zu lenken. Zudem fanden über 400 Veranstaltungen mit etwa 80 Spitzenpolitikern der Unionsparteien in der DDR statt.
Es handelte sich um nichts weniger als die größte, schamloseste, jemals stattgefundene und völlig offensichtliche Wahlbeeinflussung in der neueren Geschichte.
(WAHL-)SIEGER SCHREIBEN DIE GESCHICHTE?!
Brötchen für 5 Pfennig, Monatsmieten von 60 Mark, Gratis-Gesundheitssystem, Gratis-Bildungssystem, subventionierte Kinderschuhe, Gratis-Schulbücher, Schulessen für alle Kinder für 55 Pfennig. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen, und was all diese Errungenschaften des ehemaligen "Arbeiter- und Bauernstaates" gemeinsam haben: Sie werden heute immer noch gerne zusammengefasst mit der absurden Schlussfolgerung:
"...und deswegen war die DDR ja auch pleite!".
Die DDR mag ihre Fehler gehabt haben. Aber zu kritischer Auseinandersetzung mit der (eigenen) Geschichte gehört es auch, Fakten als solche anzuerkennen. Zu diesen Fakten zählen nicht nur eine Menge bemerkenswerte gesellschaftliche, politische und zivilisatorische Errungenschaften dieses kleinen, nur 40 Jahre existierenden deutschen Staates (des einzigen deutschen Staates, der nie einen Krieg führte), sondern eben auch die Geschehnisse rund um seine "Abwicklung" sachlich zu beleuchten. Die – so lautet bis heute die Erzählung – ja schnell passieren musste, da diese DDR ja ohnehin "auf dem letzten Loch pfiff".
Das gängige Urteil über die DDR-Wirtschaft ist längst gefällt: Selbstverständlich war die DDR 1989 am Ende! Und weil Wirtschaftsfragen für die breite Öffentlichkeit ohnehin als trocken und sperrig gelten, wird außerhalb von Fachkreisen auch nur wenig über diese Frage diskutiert. Vermutlich ist das sogar im Interesse neuerer, gesamtdeutscher Geschichtsschreibung.
Für die Menschen, die in der DDR lebten und arbeiteten, bleibt die "Pleite-DDR" jedoch ein zentrales Thema. Viele hatten das Land nach dem Krieg in "Volkseigenen Betrieben (VEB)", "Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG)", oder an 9 (international geachteten) Universitäten, 14 Akademien und unzähligen Hochschulen mit aufgebaut. Und: Viele dieser DDR-Bürger sahen sich nach 1989 als ABM-Kräfte gezwungen, die Trümmer ihrer eigenen Betriebe zusammenzukehren.
Wem eben noch "blühende Landschaften" (Originalzitat von Kanzler Helmut Kohl) versprochen wurden, und der im nächsten Moment für viele Jahre in die Arbeitslosigkeit rutscht – für den bleibt die Frage nach dem "Warum" auch Jahrzehnte nach den Geschehnissen aktuell. Denn: Bereits kurz nach der "Wiedervereinigung" war im Osten Deutschlands, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR (die keine Arbeitslosigkeit kannte), jeder Dritte Erwachsene arbeitslos.
Selbst wirtschaftlich solide Unternehmen fielen Betrug zum Opfer oder wurden unter Duldung (oder sogar Anleitung) der berüchtigten Treuhandanstalt von westlicher Konkurrenz verdrängt.
Wie war das möglich? Schließlich belegte offiziell die DDR Ende der 1980er noch den 10. Rang unter den Industriestaaten der Welt?!
WAR HIER ETWA EINE GIGANTISCHE VERSCHWÖRUNG AM WERK?
Die wirtschaftliche Situation der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) im Jahr 1989 war durchaus von erheblichen Herausforderungen geprägt. Die Planwirtschaft war nicht in allen Bereichen effizient, einige Produktionsanlagen waren veraltet und erhebliche Umweltprobleme führten zu einer sinkenden Wettbewerbsfähigkeit. Dennoch war die DDR das wirtschaftsstärkste Land des sogenannten "Ostblocks", das im ganz Wesentlichen auch andere Volkswirtschaften stützte.
Jedoch: Die wirtschaftliche Situation der DDR zum Zeitpunkt des Mauerfalls 1989 wird häufig und geradezu inflationär als bankrott beschrieben. Eine genauere Analyse zeigt, dass diese Darstellung nicht haltbar ist. Zusätzlich soll dieser Artikel einige historische Hintergründe und Zahlen beleuchten, die offenbar immer noch vielen Interessierten nicht geläufig sind.Abbildung: Taffe Muttis am Berliner Alex, Anfang der 1980er.
EIN GENAUER BLICK AUF DIE ZAHLEN
Die exakte Höhe der Auslandsverschuldung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) im Jahr 1989 variiert je nach Quelle und Definition. Allgemein wird die Staatsverschuldung der BRD für dieses Jahr auf etwa 929 Milliarden Deutsche Mark (DM) geschätzt. Dies entsprach einer Verschuldungsquote von rund 41,8 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP).
Zum Vergleich: Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) hatte im selben Zeitraum eine Staatsverschuldung von etwa 86,3 Milliarden DM, was einer Verschuldungsquote von etwa 27,6 % des BIP entsprach.
Pro Kopf bedeutete dies im Jahr 1989 eine Schuldenlast von ca. 5.384 DM für DDR-Bürger gegenüber etwa 15.000 DM für BRD-Bürger. Dass es nur ca. 16 Millionen DDR-Bürger gegenüber 80 Millionen BRD-Bürgern gab, macht die Zahlen natürlich noch einmal ungleich gewichtiger.
Es ist wichtig zu beachten, dass die genannten Zahlen die Gesamtverschuldung betreffen, also sowohl Inlands- als auch Auslandsverbindlichkeiten umfassen.
Zusätzlich verfügte die DDR über erhebliche Vermögenswerte, darunter Immobilien, Industriebetriebe und Infrastrukturen, sowie Spareinlagen der Bevölkerung. Dies bedeutet: Trotz der (im Vergleich geringen) Staatsverschuldung, war die DDR im internationalen Vergleich eines der wohlhabendsten Länder der Erde. Denn der "Arbeiter- und Bauernstaat" verfügte über ganz erhebliche Vermögenswerte, darunter Immobilien, industrielle Anlagen und Infrastrukturen. Schätzungen zufolge betrug der Wert des DDR-Produktivvermögens zwischen 1,2 und 1,5 Billionen DDR-Mark.
Das "Produktivvermögen" ist (wie der Name bereits vermuten lässt) das Wert-Volumen in einer Volkswirtschaft, das zur Leistungserstellung dient. Es setzt sich zusammen aus Sachanlagen, Immobilien, Produktionsanlagen, Vorräten, Grund und Boden. Nun waren in den 1980er-Jahren etwa 98 Prozent des gesamten Produktivvermögens der DDR volkseigen, sprich: In der Hand des Staates. Nie wieder zuvor und nie wieder danach besaß ein staatliches Konstrukt ein derart großes Vermögen.
Wo nun aber diese gigantischen Vermögenswerte hin sind: Das liefert genug Stoff für diverse Krimis, und natürlich kommen die nicht ohne Mordopfer aus. Das prominenteste: Detlev Rohwedder, erster Präsident der Treuhandanstalt, ermordet 1991. Zuvor beauftragt mit der Sicherung, Neuordnung und Privatisierung des Vermögens der Volkseigenen Betriebe der DDR.
Die perfekte Planung und Durchführung der Ermordung Rohwedders (der am 1. April 1991 mit einem NATO-Gewehr mit mehreren Schüssen durch die Scheiben seines mit Panzerglas geschützten Düsseldorfer Hauses erschossen wurde) sprechen nach Meinung von Sicherheitsexperten für eine geheimdienstliche Operation. In wessen Auftrag welcher Geheimdienst hier genau mordete – wird wohl noch für geraume Zeit im Dunkeln bleiben und liefert genügend Stoff für einen eigenen Artikel.
Wo Rohwedder noch behutsam privatisierte, sanierte und (wo möglich) den Arbeitsplatzerhalt und damit den sozialen Frieden zu seinem erklärten Ziel machte, begannen unter seiner (später im Osten berüchtigten) Nachfolgerin Birgit Breuel der rasante Ausverkauf des DDR-Volksvermögens, die Deindustrialisierung und der Arbeitsplatzabbau.
85% der volkseigenen Betriebe, ihrer Anlagen und ihres Grundbesitzes gingen unter der Treuhand an westdeutsche Investoren.
Die übrigen 15 gingen nicht etwa an neue ostdeutsche Eigner, sondern an ausländische Investoren.
Dass ein Großteil dieser sogenannten "Investoren" freilich nur (oft für die berühmten symbolischen "1 DM pro Betrieb") zugriffen, um sich noch für einige Jahre staatliche Subventionen zu sichern, ist historischer Fakt.
Abbildung: Das Berliner Sport- und Erholungszentrum (SEZ) Ende der 1980er Jahre
VERSCHWÖRUNG? FEHLER? ODER BEWUSSTE TÄUSCHUNG? DAS GEHEIME "SCHÜRER-PAPIER"
Das "Schürer-Papier" war eine geheime Analyse der DDR-Wirtschaft, die 1989 von Gerhard Schürer, dem Chef der Staatlichen Plankommission, erstellt wurde. Und "geheim" bedeutet wirklich geheim, denn die DDR-Bevölkerung erfuhr von diesem Papier erst Jahre später.
Es zeigte, dass die DDR angeblich stark verschuldet war und eine geringe Arbeitsproduktivität aufwies. Das Papier betonte die angeblichen wirtschaftlichen Probleme der DDR und trug zur Darstellung der DDR als wirtschaftlich bankrott bei – seine Aussagen werden bis heute gebetsmühlenartig in Medien, aber auch von vielen Bürgern wiederholt. Allein: Die Kernaussagen des Papiers sind falsch oder verkürzt und wurden bereits kurz nach dessen Veröffentlichung revidiert.
Im Oktober 1989, als die SED-Regierung bereits wankte, beauftragte Egon Krenz Wirtschaftsexperten mit der Erstellung einer detaillierten Analyse der DDR-Wirtschaft. Die ungeschönte "Schürer-Papier"-Analyse, verfasst von genanntem Gerhard Schürer, sollte die politische Führung über die wirtschaftlichen Missstände aufklären. Diese Analyse war absolut entscheidend für die Entwicklungen rund um die bevorstehende Wiedervereinigung.
Sieben Tage nach der Beauftragung war das "Schürer-Papier" fertig und zeigte wenig positive, aber vor allem alarmierende Zahlen. Während es Erfolge wie ein stetiges Wachstum des Nationaleinkommens und den Bau von drei Millionen Wohnungen aufführte, offenbarten die angeblichen negativen Punkte eine geringe Arbeitsproduktivität, veraltete Anlagen und steigende Auslandsschulden. Besonders dramatisch war die dort aufgeführte Verschuldung von 49 Milliarden DM. Als die DDR-Regierung 1990 mit dem Papier in Verhandlungen mit BRD-Kanzler Kohl trat, wurde es von der Regierung der BRD genutzt, um die harte Haltung zu untermauern:
"Es gibt nichts zu verhandeln."
Aber traf das zu? Die DDR war vielleicht in den Augen einiger Bürger politisch bankrott, aber war sie auch finanziell pleite? Zahlungs- und handlungsunfähig? Die Antwort ist eindeutig: Nein! Doch die Wahrheit dringt bis heute nicht durch.
Historischer Fakt: Zehn Tage nach Vorlage der ersten Fassung des Schürer-Papiers meldete die DDR noch einmal 13 Milliarden DM auf der Habenseite nach – die (angeblichen) DDR-Schulden sanken also damals bereits innerhalb weniger Tage offiziell auf 36 Milliarden DM. Doch die zuerst veröffentlichte Horrorzahl war in der Welt, und (aus welchen Gründen auch immer) "nicht mehr korrigierbar".
Walter Siegert, 1990 Finanzminister der Modrow-Regierung, belegte bis zu seinem Tod im Jahr 2020 mehrfach, dass Bundesbankberichte bereits Anfang der 1990er den DDR-Schuldenstand aus der konstruierten Drama-Ecke herausgeholt hatten: Nach dem großen Kassensturz, also als nachgerechnet war, blieben von den im Schürer-Papier angeführte 49 Milliarden DM Schulden plötzlich nur noch 19 Milliarden DM übrig. Dieser Summe standen sehr hohe Guthaben entgegen, die die DDR in Entwicklungsländern hatte. So habe die DDR sogar auch diese 19 Milliarden DM noch bezahlt, bilanzierte Siegert.
Schon bevor sich die westdeutsche Bundesbank mit den Zahlen befasste, wies 1989 niemand geringeres als die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) daraufhin, dass die Devisenliquidität der DDR gut war und die Westschulden der DDR nur 50% der angegebenen Summe betrage.
Außerdem waren da noch ausstehende Zahlungsverpflichtungen aus dem sozialistischen Wirtschaftslager: Mit 23 Milliarden DM stand die Sowjetunion bei der DDR in der Kreide, mit etwa sechs Milliarden DM andere Länder wie Ungarn, Polen, Tschechoslowakei. Diese Beträge erließ Bundeskanzler Gerhard Schröder sukzessive ganz oder teilweise. Richtig gelesen: Die nachfolgenden BRD-Regierungen erließen aus politischen Gründen den Schuldnern der DDR ihre Schulden.
Abbildung: ABC-Schützen zeigen ihre gerade erhaltenen Schulbücher. Die uns allen bekannte orange Fibel liegt schon auf dem Tisch
UND WIE STAND ES EIGENTLICH WIRTSCHAFTLICH UM DIE BRD?
Viel wird geschrieben über die ach so marode Wirtschaft der DDR im Jahre 1989. Aber wie stand es eigentlich um die Wirtschaft der Bundesrepublik kurz vor der sogenannten "Wende"? Ende der 1980er-Jahre war die Wirtschaft der BRD zwar noch stark, aber es gab klare Anzeichen für eine elementare Abschwächung:
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Wachstumsschwäche: Das Wirtschaftswachstum verlangsamte sich. Während der "Wirtschaftswunder"-Jahre lag es oft über 4 %, doch in den späten 80ern pendelte es um 2 %.
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Strukturwandel & Deindustrialisierung: Der klassische Industriesektor (Stahl, Kohle, Schiffbau) befand sich in der Krise. Der Strukturwandel hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft war im Gange, war aber schwierig und oft nicht erfolgreich.
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Extrem hohe Arbeitslosigkeit: Die Arbeitslosenquote stieg enorm an, 1987 lag sie in der BRD bei etwa 9 %. Besonders betroffen waren ungelernte Arbeitskräfte und ältere Arbeitnehmer.
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Sehr Hohe Staatsverschuldung: Die Schuldenquote des Staates stieg, auch wegen hoher Sozialausgaben und Subventionen für alte Industrien.
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Inflations- und Zinsprobleme: Die D-Mark war noch stark, aber Inflationssorgen und hohe Zinsen dämpften die Investitionsfreude.
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Internationale Konkurrenz: Die BRD bekam zunehmend extrem hohen Druck aus Asien (Japan, später Südkorea), insbesondere in der Automobil- und Elektronikindustrie.
Abbildung: Der "Schulgarten", wo Generationen DDR-Kinder früh Zusammenhänge in der Natur und den Anbau von Gemüse lernten, aber auch verdammt viel Unkraut jäten mussten...
HATTE DIE BRD GAR EIN INTERESSE AN DER SCHNELLEN "ÜBERNAHME" DER DDR?
Nun schauen wir uns außerdem an, wie sich die (im Jahre 1989 strauchelnde) Wirtschaft der Bundesrepublik offenbar auf Kosten der DDR-Wirtschaft sanierte:
Währungsunion als Schock für die DDR-Wirtschaft:
- Die Einführung der D-Mark führte zur plötzlichen Überbewertung ostdeutscher Produkte.
- DDR-Betriebe wurden schlagartig nicht mehr wettbewerbsfähig, da Löhne in harter Währung gezahlt werden mussten, während Produktivität und Qualität nicht mithalten konnten.
- Folge: Massenhafte Betriebsschließungen und rapide steigende Arbeitslosigkeit in der DDR.
Übernahme ostdeutscher Betriebe durch westdeutsche Unternehmen:
- Westdeutsche Firmen konnten DDR-Betriebe günstig übernehmen oder zerschlagen.
- Die Treuhandanstalt privatisierte DDR-Unternehmen oft zugunsten westdeutscher Investoren, wodurch viele ostdeutsche Unternehmen verschwanden.
Erweiterung des Absatzmarktes für westdeutsche Firmen:
- Die plötzliche Einführung der D-Mark und der wirtschaftliche Zusammenbruch der DDR schufen eine riesige neue Kundschaft für Westprodukte.
- Ostdeutsche Konsumenten mussten westdeutsche Waren kaufen, da ihre eigenen Betriebe nicht mehr produzieren konnten.
Westdeutsche Konzerne profitierten enorm vom Konsumboom in Ostdeutschland.
- Subventionierte Infrastruktur- und Investitionsprogramme kamen fast ausschließlich westdeutschen Firmen zugute.
- Milliardeninvestitionen für den Aufbau Ost wurden vor allem durch westdeutsche Firmen umgesetzt.
- Großaufträge für Infrastruktur (z. B. Autobahnen, Bahnstrecken, Telekommunikation) gingen fast ausschließlich an westdeutsche Unternehmen.
Arbeitsmarkt: Niedrige Löhne in Ostdeutschland als Vorteil für westdeutsche Firmen.
- Ostdeutsche Arbeitnehmer erhielten trotz D-Mark-Einführung deutlich niedrigere Löhne.
- Westdeutsche Firmen verlagerten Produktionsstandorte in den Osten und profitierten von billigerer Arbeitskraft.
Finanzierung der Wiedervereinigung durch DDR-Vermögen.
- DDR-Staatsbetriebe, Immobilien und Bodenflächen wurden oft unter Wert verkauft.
- Staatliche DDR-Vermögen (z. B. Devisenreserven) flossen in die Bundeshaushalte.
- DDR-Spareinlagen in Höhe von rund 160 Milliarden Mark wurden entwertet.
Abbildung: Belebte Innenstädte unserer Kindheit. hier: Gera Anfang der 1980er.
DIE DDR: DAS WAHRE DEUTSCHE WIRTSCHAFTSWUNDER
Außerdem kündigte sich bereits der Ost-West-Konflikt an: Der strategische, schnelle wirtschaftliche Aufbau Westdeutschlands war Priorität.
"Die Wirtschaft ganz Europas ist durch Austausch von Rohstoffen und Fabrikaten mit der deutschen Wirtschaft verflochten. Die Produktivität Europas kann nicht wiederhergestellt werden, ohne dass ein gesundes Deutschland zu dieser Produktivität beiträgt." – so der US-Präsident Hoover Anfang 1947. Damit war freilich alleine Westdeutschland gemeint.
Die Startbedingungen der beiden deutschen Staaten hätten also unterschiedlicher nicht sein können: Während die BRD von massiver Unterstützung seitens der Westmächte (vor allem der USA) profitierte, sah es wirtschaftlich 1949 recht düster im Osten aus:
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98 % der gesamtdeutschen Kriegsreparationen nach 1945 trug allein die DDR.
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Über 3.000 Betriebe, Werke und Industrien wurden nach 1945 als Kriegswiedergutmachung auf dem Gebiet Ostdeutschlands (also der DDR) abgebaut und in den Osten transportiert.
- Ende 1947 besaß die DDR keine einzige doppelgleisige Bahnstrecke mehr. Über 12.000 km Eisenbahnstrecke (und damit 50 % des Schienennetzes von 1938) wurden als Reparationen demontiert.
- Neben den Kriegsschäden wurden der DDR ab 1945 über 30 % aller industriellen und infrastrukturellen Kapazitäten als Reparationen entzogen.
- Die DDR trug die höchste Pro-Kopf-Belastung an weltweiten Reparationszahlungen im 20. Jahrhundert.
- Verglichen mit der BRD trugen DDR-Bürger eine Reparationsbelastung, die pro Kopf 130-mal so hoch war.
- Bei Gründung beider deutscher Staaten verfügte die DDR nicht einmal über 40 % des Kapitalstocks (Sachkapital, technische Anlagen, Fabriken usw.) der BRD.
- Über den Marshallplan pumpten die USA (in eigenem Interesse) nach heutigem Wert über 133,95 Milliarden Dollar in den industriellen Wiederaufbau Europas.
- Höhe der davon auf die DDR entfallenden Summe: 0,00 Dollar.
- Umgekehrt leistete allein die DDR bis Mitte der 1950er Jahre 100 Milliarden DM an Reparationszahlungen.
- Trotzdem besaß die kleine DDR mit nur 16 Millionen Einwohnern bereits 25 Jahre nach ihrer Gründung (und bis zu ihrer Annexion 1989) den höchsten Lebensstandard, die größte Produktivität und die leistungsfähigste Wirtschaft aller Ostblockstaaten (inkl. der Sowjetunion).
Kurz gesagt: Liebe Leute, egal, was in eurem (neueren) Geschichtsbuch steht: Die unbequeme, aber historische Wahrheit ist – das einzig reale deutsche Wirtschaftswunder passierte in der DDR. Gewinne der westdeutschen Wirtschaft, aber auch der Wohlstand und Konsum der BRD-Bürger basierten übrigens nicht erst nach der Wiedervereinigung auf DDR-Leistung. Bereits zuvor nutzte die BRD die DDR als billigen Produktionsstandort hochqualitativer Waren. Das BRD-Versandunternehmen Quelle wurde mit DDR-Produkten zum Branchenführer. Bereits seit 1964 wurden elektronische Artikel von den DDR-Kombinaten Robotron, RFT, Mikroelektronik Erfurt oder Carl Zeiss Jena im Westen unter der Marke "Privileg" in der BRD verkauft. Auch Möbel und Kleidung, die über den Quelle-Katalog bestellt werden konnten, kamen aus der DDR. IKEA wurde zum westdeutschen Marktführer dank Produktion in der DDR. Tatsächlich gingen in den 1980er Jahren über 50% aller Wirtschaftsexporte der DDR in die BRD.
Nochmal: Ein Großteil der hochqualitativen Konsumgüter, die in der BRD verkauft wurden, wurde bis 1989 in der DDR produziert. Heimtextilien, Kinderkonfektion, Damenkonfektion, Herrenkonfektion, Spielzeug, Möbel, Elektrogeräte, ja sogar Süßwaren und Lebensmittel: BRD-Haushalte waren (meist ohne es zu wissen) bis zum Dach mit DDR-Produkten gefüllt. Insgesamt bezogen über 6.000 westdeutsche Firmen ihre Produkte aus dem Osten. Darunter auch Salamander, Schiesser, Adidas und Bosch. Auch der Verkaufsschlager von Beiersdorf, die "Nivea Creme", wurde in der DDR hergestellt.
Ab 1990 jedoch wurde die nahezu vollständige Zerstörung selbständiger ostdeutscher Betriebe vor allem damit verargumentiert, dass plötzlich deren Qualität für den Markt nicht ausreiche. Ein Märchen, das sich (ebenso wie die angebliche Überschuldung der DDR) bis heute hält.
ZUSAMMENFASSUNG
Zusammenfassend war die DDR 1989 wirtschaftlich höchstens angeschlagen, aber zu keinem Zeitpunkt zahlungsunfähig oder gar "pleite". Die Darstellung der "bankrotten DDR" diente ganz klar politischen Zielen und beeinflusste maßgeblich den Verlauf der Wiedervereinigung. Das ist nun keine Verschwörungstheorie, sondern über 35 Jahre nach den Geschehnissen allgemeiner historischer Konsens.
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weiterführende Linktipps:
Wikipedia: Volkskammerwahl 1990
Deutschlandfunk: Wir sind ein Volk
Wikipedia: CDU-Spendenaffäre
Spiegel: Letzte Wahl zur Volkskammer
FAZ: Der unerwartete Sieg im Jahr 1990
Süddeutsche: Ausverkauf der Republik
Die Welt: Die DDR war in Wahrheit gar nicht pleite
Deutschlandfunk: Das Märchen von der bankrotten DDR
MDR: Wie pleite war die DDR?
Bundeszentrale für politische Bildung: Eine äußerst widersprüchliche Vereinigungsbilanz
Die Zeit: Deutsches Tabuwort Reparation
West-Kataloge voller Ost-Produkte
Weiterführende Literatur
-
Ilko-Sascha Kowalczuk – Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde
C.H. Beck, 2019
→ Standardwerk zur kritischen Aufarbeitung der Vereinigung – analysiert detailliert politische, ökonomische und psychologische Prozesse. -
Wolfgang Seibel – Demokratie im Rückwärtsgang: Wie autoritäre Versuchungen unsere offene Gesellschaft bedrohen
C.H. Beck, 2023
→ Enthält kritische Passagen zur westdeutschen Elitenlogik in den 1990er Jahren und wie „Demokratie“ selektiv interpretiert wurde. -
Stefan Bollinger – Wem gehört der Osten? Die Treuhand und die Eigentumsfrage
PapyRossa Verlag, 2020
→ Scharfe Analyse der Treuhandpolitik und ökonomischen Entmachtung Ostdeutschlands durch die BRD nach 1990. -
Renate Hürtgen (Hg.) – Risse im Bruderland. DDR-Arbeiter in der BRD
VSA-Verlag, 2009
→ Kritischer Blick auf ökonomische, soziale und kulturelle Entwertungsprozesse ostdeutscher Biografien nach der Vereinigung. -
Marcus Böick – Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung 1990–1994
Wallstein Verlag, 2018
→ Umfangreiche, differenzierte Studie, die trotz Neutralität auch massive Kritik an den politischen Mechanismen äußert. -
Andreas Wehr – Deutsche Einheit – eine Abwicklung
PapyRossa Verlag, 2010
→ Radikale Perspektive auf die Vereinigung als politisch-ökonomischen Akt der Eingemeindung Ostdeutschlands. -
Peter-Michael Diestel – Ich war der letzte DDR-Innenminister
Europa Verlag, 2020
→ Erfahrungsbericht eines ostdeutschen Politikers, der die Einverleibung aus kritischer Perspektive beschreibt. -
Eckhard Jesse (Hg.) – Friedliche Revolution und deutsche Einheit: Beiträge zu einer kritischen Bilanz
Nomos Verlag, 2011
→ Unterschiedliche Stimmen, darunter auch kritische, über mangelnde demokratische Partizipation im Vereinigungsprozess. -
Christa Luft – Glaubt nicht, was euch die Wirtschaftswissenschaft erzählt!
Edition Ost, 2020
→ Ehemalige DDR-Wirtschaftsministerin rechnet mit der politischen Manipulation wirtschaftlicher Narrative ab. -
Gerd-Rüdiger Stephan (Hg.) – Die DDR – zwischen Wende und Anschluss
Pahl-Rugenstein, 1994
→ Frühzeitige, sehr kritische Sammlung von Analysen und Reden zur Demontage der DDR-Strukturen nach 1989. -
Rudolf Bahro – Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus
Europäische Verlagsanstalt, 1977
→ Frühkritik des DDR-Systems, aber auch Warnung vor kapitalistischer Dominanz nach Umbruch. -
Angela Marquardt – Vater, Mutter, Stasi?
Ullstein, 2013
→ Persönlich und politisch: Innenansichten über Mythenbildung, Schuldzuschreibungen und Delegitimation des Ostens. -
Sascha Lange – Die DDR war anders. Eine Ostbiografie
Aufbau Verlag, 2020
→ Reflexion über DDR-Alltag jenseits der Klischees – wichtig für ein differenziertes Bild.