Warum BRD-Bürger die DDR (auch!) vermissen sollten

Warum BRD-Bürger die DDR (auch!) vermissen sollten

Oder: Wie die DDR die BRD durch ihre bloße Existenz sozialer machte.

von Markus Gelau


Einschub vorab: Als wir kürzlich diesen Beitrag auf Social Media veröffentlichten, kommentierte ihn Dietmar L., ein Rentner aus Süddeutschland wie folgt:

"Kurz nach der Wende hat ein Betriebsrat zu mir gesagt "Jetzt wird es abwärts gehen mit dem Lebensstandard". Auf die Frage, warum, sagte er: "Wir brauchen nicht mehr mit dem Osten konkurrieren!". So ist es auch gekommen."


Ein passender, autobiografischer Kommentar. Und: Leider sehr selten in der Reflexion. Denn wenn heute über die DDR gesprochen wird und Westdeutsche ihren Senf dazu abgeben, fällt als erstes fast immer folgende Phrase, pardon – Frage:

"Ja, aber warum seid ihr denn 1989 auf die Straße gegangen?"


Die Frage an sich ist nicht schlecht. Sie wäre sogar wichtig – wenn die Fragenden sich wirklich für die Antwort interessieren würden. Leider tun sie das in den meisten Fällen nicht.

Und genau das ist eines der größten Probleme in diesem "vereinigten" Deutschland:
Westdeutsche interessieren sich im Allgemeinen nicht für Ostdeutsche. Und wenn sie es doch tun, dann meist:

  • abwertend
  • klischeehaft
  • pauschalisierend

...und leider meist ohne irgendeine reale Kenntnis von Geschichte, Strukturen oder politischen Zusammenhängen.

Dabei wäre es im eigenen Interesse der Westdeutschen, sich mit der DDR und ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. Denn die DDR war kein isolierter Punkt, keine Fußnote, kein Randaspekt. Nicht nur das Ende der DDR hatte einen ganz wesentlichen (positiven) Einfluss auf das Leben aller BRD-Bürger. Auch ihre bloße Existenz vor 1989 sicherte den Bewohnern der BRD Lebensumstände, die ab 1990 Schritt für Schritt verschwanden.

Aber der Reihe nach:


📉Die wirtschaftliche Realität in der BRD vor der "Wiedervereinigung"

Tatsächlich war die wirtschaftliche Lage der BRD im Jahr 1989/1990 nicht katastrophal, aber alles andere als gut. Die westdeutsche politische Elite hatte an einer schnellen "Wiedervereinigung" – böse Zungen sagen "Annexion" der DDR – nicht nur aus historischen Gründen Interesse. Kohl und Konsorten wollten sich erklärtermaßen geschichtspolitisch verewigen.

Die Regierung der BRD trieb den Anschluss der DDR aber nicht nur in egoistischem Interesse voran, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen: Ende der 1980er-Jahre war die Bundesrepublik wirtschaftlich längst nicht mehr das strahlende Erfolgsmodell der "Wirtschaftswunder"-Zeit. Das Wachstum hatte sich spürbar abgeschwächt und pendelte nur noch um die 2 %, während zentrale Industriezweige wie Kohle, Stahl und Schiffbau in die Krise gerieten. Der teure und konfliktbehaftete Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft gelang nur schleppend, was vor allem ungelernte und ältere Arbeiter hart traf. Die Arbeitslosigkeit erreichte Rekordwerte von rund 10%, während zugleich die Staatsverschuldung stark anstieg belastet durch hohe Sozialausgaben und Subventionen für auslaufende Industrien. Hinzu kamen Inflationssorgen, hohe Zinsen und wachsender Wettbewerbsdruck aus Asien, besonders in der Automobil- und Elektronikbranche. Kurz vor der "Wende" stand also nicht nur die DDR vor Herausforderungen auch die BRD befand sich in einer tiefgreifenden wirtschaftlichen Krise.

1989 war jeder Westdeutsche im Schnitt mit rund 19.000 DM Staatsschulden belastet. In der DDR waren es dagegen nur etwa 1.200–1.600 DM pro Kopf.

Kurz: Die BRD war pro Einwohner zwölf- bis fünfzehnmal höher verschuldet als die DDR.


Diese ökonomischen Fakten sind die wahren Gründe dafür, dass die wirtschaftsnahe CDU-Regierung der BRD den Anschluss der DDR an "ihre" BRD vorantrieb. Sie finanzierte in der größten ausländischen Wahleinmischung der Geschichte den Wahlkampf ihrer Ablegerpartei in der entscheidenden, letzten Volkskammerwahl von 1990. Die BRD-CDU unter Helmut Kohl butterte fast 8 Millionen D-Mark in den letzten Wahlkampf der DDR. Fast 4 Millionen D-Mark stammten direkt aus den (mehr oder weniger schwarzen) Kassen der West-CDU. 8 Millionen D-Mark sind übrigens (kumuliert inflations- und kaufkraftbereinigt) über 7,5 Millionen Euro

Die Unterstützung der West-CDU ging jedoch weit über finanzielle Mittel hinaus. Es wurden sogenannte Kreispartnerschaften gebildet, bei denen jeder (!) Landkreis in der DDR von einem westdeutschen CDU-Kreisverband "betreut" (also instruiert) wurde. Zehntausende westdeutsche CDU-Mitglieder nahmen Urlaub, um vor Ort in der DDR den Wahlkampf zu lenken. Zudem fanden über 400 Veranstaltungen mit etwa 80 Spitzenpolitikern der BRD-Unionsparteien in der DDR statt.

Dem hatten Parteien der DDR (vor allem die Bürgerrechtsparteien wie "Neues Forum") nichts entgegen zu setzen.

Das Ergebnis: Alle anderen Parteien der DDR (ohnehin wenig erfahren im westlichen Stil eines Wahlkampfs) waren chancenlos. Die CDU wurde (auch) in der DDR Wahlsieger. Dank eines mehr oder weniger gekauften Wahlsieges. Die Kernforderung der CDU (sowohl in Ost als auch in West) war: ein schneller Anschluss / Beitritt der DDR zur BRD.

Diese Vorgänge geschahen übrigens mit Rückendeckung der westdeutschen Wirtschaft, den BRD-Konzernen und Eliten: eben allen edlen CDU-Spendern, denn:


Der Anschluss der DDR an die BRD öffnete der BRD und ihrer Wirtschaft einen neuen Markt von 17 Millionen Konsumenten – zahlungskräftig, konsumorientiert, bereit. Das katapultierte die strauchelnde westdeutsche Wirtschaft nachweisbar wieder nach oben.

Der Aufschwung der westdeutschen Wirtschaft begann mit einem Geniestreich:


💸100 Mark für den Osten – Milliarden für den Westen

Zwischen November 1989 und Juni 1990 erhielten insgesamt rund 5 Millionen DDR-Bürger das sogenannte "Begrüßungsgeld". Jeder von ihnen bekam bei der Einreise in die Bundesrepublik 100 D-Mark, was in heutiger Kaufkraft ungefähr 220 bis 250 Euro entspricht. Insgesamt gab der westdeutsche Staat dafür etwa 470 Millionen D-Mark aus.

Dieses Geld blieb jedoch nicht lange in den Taschen der Ostdeutschen: Es wurde nahezu vollständig innerhalb weniger Stunden oder Tage ausgegeben 
und zwar direkt und ausschließlich im Westen. Insbesondere der Einzelhandel, Kaufhausketten, westdeutsche Markenhersteller und der gesamte Konsumsektor profitierten unmittelbar und deutlich von dieser Maßnahme. Das Begrüßungsgeld wirkte damit nicht als humanitäres Geschenk, sondern als staatlich finanziertes Anschubkapital für den westdeutschen Konsum- und Warenmarkt.

Die 100 DM Begrüßungsgeld waren kein Geschenk an Ostdeutsche – sie waren ein staatlich finanziertes Konjunkturprogramm für die westdeutsche Konsumwirtschaft. Der Osten kaufte – der Westen kassierte.


Allerdings: Informierte Leser wissen, das war nur das Vorspiel zum großen Raubzug.


💰Der eigentliche wirtschaftliche Effekt: Die Währungsunion 1990

Der wirklich große ökonomische Umschwung setzte jedoch nicht mit dem Begrüßungsgeld ein, sondern mit der Währungsunion am 1. Juli 1990, als die D-Mark auch in der DDR eingeführt wurde. Von einem Tag auf den anderen verfügten Millionen Ostdeutsche über westliche Kaufkraft, die sie ausschließlich in westdeutsche Produkte investierte. Die Folge war eine massive Konsumverlagerung hin zu westdeutschen Waren, Marken, Supermarktketten, Kaufhausunternehmen und Herstellern.

Schätzungen des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) beziffern diese Nachfrageverschiebung allein für die Jahre 1990 bis 1991 auf etwa 60 bis 80 Milliarden D-Mark, die aus dem Osten direkt in westdeutsche Kassen flossen. Mit anderen Worten: Die Währungsunion war der eigentliche Konjunktur-Boost der BRD.


Und nebenbei eignete sich die BRD das größte jemals existierende Volksvermögen der Moderne an. Kein Staat der Welt hatte je vorher oder nachher so viel gemeinschaftliches Eigentum. Wo das hin ist? Das ist ein eigener Artikel...

Mit der DDR übernahm die BRD 1990 ein komplett verstaatlichtes Wirtschaftssystem:

  • 7.900 volkseigene Betriebe (VEB)
  • 4 Mio. Beschäftigte in diesen VEB
  • 2,5 Mio. kommunale Wohnungen
  • 2.000 Kombinate / Großbetriebe (mit eigener Forschung, Ausbildung und Gesundheitsversorgung)
  • 4.500 Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (inkl. riesiger Flächen Agrarland)
  • Öffentliche Infrastruktur: Energie, Wasser, Verkehr, Medien, Bildung, Gesundheitswesen

Das war kein Kapitalmarkt- oder Familienbesitz, sondern rechtlich und anch der Verfassung der DDR Eigentum des Volkes.

Nach Schätzungen des BRD-Bundesrechnungshofs betrug das übernommene Volksvermögen der DDR 1990 über 600 Milliarden DM. Das sind inflationsbereinigt in heutiger Kaufkraft: über 1,5 Billionen Euro.

Von den knapp 8.000 DDR-Betrieben überlebte kaum einer. Der wirtschaftliche Aufschwung der BRD beruhte also nicht nur auf dem neuen Markt, sondern auch auf der systematischen Ausschaltung potenzieller Konkurrenz.

Wir müssen hier nicht erneut auf die Treuhand-Privatisierungen eingehen — das haben wir faktenbasiert bereits hier und hier ausführlich getan. Es genügt, festzuhalten:

Die BRD schenkte ihren Konzernen nicht nur 17 Millionen neue Kunden, sondern auch die Eliminierung eines kompletten eigenständigen Produktionssystems.


Und nein, die ostdeutschen Betriebe waren nicht "unfähig". Ganz im Gegenteil:

  • Über 50% der DDR-Exporte gingen bis 1990 in den Westen
  • Über 8000 westdeutsche Marken produzierten in der DDR
  • Große Versandhauskataloge wie Quelle waren fast vollständig "Made in GDR"
  • Das Märchen der "Nicht-Konkurrenzfähigkeit" ist historisch widerlegt.

Doch BRD-Bürger profitierten nicht nur indirekt über einen Wirtschaftsaufschwung durch das Ende der DDR. Auch und vor allem zu ihren "Lebzeiten" sicherte die DDR den Bürgern der BRD ihren Sozialstaat.

 

🎭Der doppelte Effekt: Sicherheit durch Existenz – Aufschwung durch Untergang

Und nun der entscheidende Punkt: 

Die DDR schuf durch ihre bloße Existenz als gesellschaftliche Konkurrenz nicht nur Lebensumstände für Westdeutsche, die heute allenfalls schöne Erinnerungen sind, sondern verschaffte der BRD sogar durch ihr Ableben noch einen wirtschaftlichen Aufschwung.

Solange die DDR existierte, musste die BRD sozial bleiben, um im Systemvergleich gut auszusehen. Nach 1990 fiel dieser Druck weg – und Sozialstaat, Frieden & Sicherheit wurden abgebaut. 

Die Wahrheit ist das Kind der Zeit, nicht der Autorität. Also werfen wir einen Blick auf die Entwicklung der BRD nach dem Ende der DDR. Keine Phrasen, kein Blabla, nur Fakten:


🧺 1. Armut

  • DDR 1989: 0% existenzielle Armut 
    (Wohnen, Heizung, Bildung, medizinische Versorgung gesichert)
  • BRD 1989: Armutsquote BRD unter 10%
  • BRD 2025: 23%, in Großstädten bis zu 40%

(Quelle: Paritätischer Armutsbericht 2023)


🍞
2. Hunger

Tafeln in der BRD:

  • DDR 1989: 0
  • BRD 1989: 0
  • BRD 2025: ca. 1.000, 2 Mio. Menschen sind heute angewiesen auf Leistungen der Tafel.

(Quelle: Bundesverband Tafel)

Anmerkung: Nicht "der Staat" sorgt hier für wirtschaftliche schwache Bürger, sondern engagierte Bürger selbst. 

In Deutschland leben heute rund 3 Millionen Kinder in Armut. Das entspricht jedem fünften Kind. (Quelle: Paritätischer Armutsbericht / Destatis)

Armut bedeutet in Deutschland nicht automatisch völlige Unterversorgung, aber sie bedeutet Mangel an regelmäßigem, ausreichendem, gesundem Essen. Konkrete Daten aus der Ernährungsforschung:

  • 20% aller Kinder aus Haushalten mit Armutserfahrung haben nicht genug zu essen zu Hause.
  • 29% der Kinder aus armutsbetroffenen Familien überspringen Mahlzeiten, weil "kein Geld für Essen da ist".
  • 38% der Schulkinder aus diesen Haushalten kommen ohne Frühstück in die Schule.

(Quelle: "Food Insecurity Among Children in Germany", Universität Hohenheim &  sowie UNICEF-Report "Child Food Poverty in Rich Countries")

Das heißt wörtlich: Jedes fünfte Kind in Deutschland isst nicht genug nicht aus Diät, sondern aus Geldmangel. Und genau das ist der Begriff von Hunger in Industrienationen: Nicht das völlige Ausbleiben von Nahrung, sondern regelmäßige, systematische Unterversorgung.

 

🏠 3. Wohnen

  • DDR 1989: Miete stabil bei 24% des Einkommens
  • BRD 1989: ca. 20% des Nettoeinkommens
  • BRD heute: bis zu 55% des Einkommens für Miete

(Quelle: Deutscher Mieterbund)

 

🛠 4. Arbeit

  • DDR 1989: Vollbeschäftigung
  • BRD 1989: ca. 7% Arbeitslosigkeit
  • BRD heute: fast 20% aller Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor, Leiharbeit Normalität, reale Arbeitslosigkeit mit Unterbeschäftigung 811%

(Quelle: IAB, WSI)

 

💸 5. Rente / Sozialstaat

  • Rentenniveau DDR 1989: bis zu 80%
  • Rentenniveau BRD 1989: 55%
  • Rentenniveau BRD 2025: 47% (Rentenniveau BRD 2035 geplant: 43%)

(Quelle: BMAS)

In Deutschland steigt die Altersarmut seit Jahren – und zwar systematisch, nicht zufällig. Heute durchwühlen Rentner in der BRD Mülltonnen nach Pfandflaschen.

Jeder fünfte Rentner in Deutschland  gilt heute offiziell als arm:

  • (22% der über 65-Jährigen)
  • Bei Frauen sind es sogar 29%
  • Bei Alleinerziehenden im Ruhestand: über 40%

(Quelle: Paritätischer Armutsbericht / Destatis)


🕊 6. Frieden vs. Aufrüstung

  • DDR bis 1989: Antikriegskonsens, keine Auslandseinsätze
  • Militärausgaben der BRD 1989  2024: 24 Mrd 72 Mrd
  • BRD heute: 17 Auslandseinsätze, bei Waffenexporten #4 weltweit

(Quelle: SIPRI)

 

🏥 7. Gesundheitssystem

  • DDR 1989: kostenfrei, Poliklinik-Modell, Teammedizin
  • BRD 1989: 15% privat, 85% öffentlich + gemeinnützig
  • BRD heute: 40% Krankenhäuser privatisiert  Gewinn vor Versorgung

(Quelle: RWI Essen; Deutscher Pflegerat)

 

Gesamtfazit

Die DDR war der Grund, warum die BRD sich überhaupt sozial geben musste. Mit ihrem Ende verschwand der Systemvergleich – und damit jede Notwendigkeit, die Bevölkerung vor Markt, Ausbeutung und Verarmung zu schützen.

Klarer formuliert: Die DDR hat den Westen gezwungen, menschlich zu sein. Als die DDR verschwand, verschwand auch die soziale Verantwortung in der BRD. Prozesse und Entwicklungen, die klar und zahlenbasiert auf der Hand liegen.

Die DDR war das unliebsame, aber notwendige soziale Korrektiv. Sie zwang die BRD zum Systemvergleich und damit dazu, ihre Bürger vor Ausbeutung und Verarmung zu schützen. Mit dem Fall der Mauer fiel nicht nur die DDR, sondern auch die soziale Maske im Westen. Die Folgen spüren wir heute alle, von der Rentenlücke bis zum Pflegenotstand: Ohne das Gegengewicht Ost verschwand die Notwendigkeit, menschlich zu sein.

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