Über Reflexe und blinde Flecken:
Wenn in Deutschland das Wort "Enteignung" fällt, läuft der Reflex ab wie ein altes Tonband: Mainstream-Medien (vor allem im Westen Deutschlands) verfallen umgehend in die immer gleichen Erzählungen über die "Sowjetische Besatzungszone".
"Sowjetische Besatzungszone" ist übrigens der Ausdruck (oder kurz "SBZ"), den heute noch gerne BRD-Mitbürger für die DDR verwenden. Dass diese "SBZ" nur 4 Jahre bestand, dagegen die DDR ganze 40 Jahre, spielt da keine Rolle. Allein die Begrifflichkeit soll Verachtung ausdrücken für alles "Östliche". Das scheint generationenübergreifend in Westdeutschland weitergegeben worden zu sein. Die traurigen Resultate in Form von neuerlichem Kriegsgeschrei und Aufrüstung erleben wir gerade live.
Diese "SBZ" also (eigentlich die DDR), hat "verbrecherisch" enteignet. Und enteignet wurden hier, so lautet zumindest die heutige Erzählung, tausende brave, besitzende Bürger, die sich auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, Anfang der 50er Jahre befanden. Fleißige Bauern, Industrielle, (Groß-)Grundbesitzer, im Prinzip all diejenigen, die Jahrzehnte, wenn nicht hunderte Jahre lang, die gesellschaftliche Ordnung aufrecht erhielten. Was freilich in dieser Erzählung selten vorkommt, ist die Wahrheit:
… nämlich, dass ein Großteil jener "Enteigneten" keine unschuldigen Opfer sozialistischer Willkür waren, sondern Profiteure eines Systems, das zuvor etliche Jahre lang Millionen andere entrechtet, ausgebeutet oder in den Krieg geschickt hatte.
Viele der Ländereien, die in der Bodenreform nach 1945 verteilt wurden, gehörten adligen Großgrundbesitzern, schwerreichen Industriellen, Nazis oder ehemaligen NS-Mitläufern, die von Zwangsarbeit, Rüstungsgeschäften oder der Ausbeutung von Landarbeitern lebten.
Die sowjetische Besatzungsmacht und später die DDR vollzogen mit der Bodenreform keinen blinden Raub, sondern eine der umfassendsten sozialen Umverteilungen Europas – zugunsten derer, die bis dahin nie eigenes Land besessen hatten.
"Junkerland in Bauernhand“ war also mehr als ein Propagandaspruch: Es bedeutete, dass erstmals einfache Landarbeiter und hunderttausende Flüchtlinge nach dem Krieg eine Zukunft bekamen – auf eigenem Boden.
"Sieger schreiben die Geschichte", so sagt man. Und vielleicht stimmt diese oft zitierte Phrase auch in diesem Fall. Denn, anders als uns heute vermittelt, fand die größte Umverteilung privaten Besitzes nach 1945 nicht unter den "ketzerischen Roten und ihrem utopischen Traum einer gerechteren Welt statt", sondern im sogenannten Rechtstaat BRD nach 1990. Und: diese betraf ausschließlich DDR-Bürger.
⚖️ Die zweite große Enteignung – wenn Recht zu Unrecht wird:
Doch kaum jemand spricht heute noch über die größte Enteignungswelle der deutschen Nachkriegsgeschichte, die nicht in der DDR, sondern nach ihr stattfand. Sie traf Millionen Ostdeutsche – im Namen des Rechtsstaats, mit Paragraphen, Stempeln und Aktenzeichen.
Im Einigungsvertrag von 1990 stand ein Satz, der harmlos klang, aber Millionen Schicksale besiegelte:
"Enteignungen sollen rückgängig gemacht oder entschädigt werden – nach dem Grundsatz Rückgabe vor Entschädigung."
(Quelle: Einigungsvertrag, 1990)
Was als Rechtsstaatlichkeit verkauft wurde, entwickelte sich nun zur juristischen Massenenteignung. Denn die Rückgabe alter Vermögenswerte galt auch für jene, die längst in neuer Hand waren – Häuser, Grundstücke, Felder, ganze Betriebe.
Zwischen 1990 und 2004 gingen laut Bundesfinanzministerium rund 2,3 Millionen Rückübertragungsanträge ein – die größte Vermögensverschiebung Europas nach 1945. Und sie verlief ausschließlich in eine Richtung: von Ost nach West.
🏠 Wenn das eigene Zuhause plötzlich jemand anderem gehört:
Viele DDR-Bürger erhielten nach der Wende Briefe, die (das kann man genauso ehrlich formulieren) ihr Leben zerstörten:
"Hiermit machen wir Rückgabeansprüche geltend …"
Meistens standen dort die Namen von Menschen, deren Familien das Grundstück vor Jahrzehnten verloren oder aufgegeben hatten – und die nun mit westdeutschen Anwälten zurückkehrten. Tatsächlich ist es eine historische Wahrheit, dass (im Gegensatz zur BRD) Nazis nach 1945 in der DDR aktiv verfolgt wurden. Was einer der ganz wesentlichen Gründe für die Flucht tausender "Belasteter" nach 1945 (und dann wieder nach 1961) war. Diese Menschen mit zweifelhafter Vergangenheit im "Dritten Reich" fürchteten zu recht Schlimmeres, als Enteignung. Und so ließen viele Tausende auf dem Weg in die westdeutsche Besatzungszone Häuser, Höfe, Besitz zurück. Besitz, der übrigens allzu oft auf verbrecherischer Ausbeutung und Zwangsarbeit basierte.
Die westdeutschen Erben dieser Menschen standen 1990 parat und forderten nach 40 Jahrzehnten das angebliche Erbe ihrer zweifelhaften Ahnen zurück: das freilich längst neue Besitzer hatte.
"In Rostock etwa verlangte der Erbe eines Gutsbesitzers ein Grundstück zurück, auf dem inzwischen Dutzende DDR-Einfamilienhäuser standen.“
(Berliner Morgenpost, 2003)
Nur wer viel Glück hatte, durfte bleiben – gegen hohe Miete. Wer Pech hatte, musste raus. Pech hatten die Meisten. Und wer sich wehrte, lernte schnell: BRD-Paragraphen sind stärker als Zeit und Gerechtigkeit.
🌾 Die Bodenreform – und ihre juristische Rückabwicklung:
Zwischen 1945 und 1949 enteignete die sowjetische Besatzungsmacht auf dem Gebiet der ehemaligen DDR rund 3,3 Millionen Hektar Land von Großgrundbesitzern, Nazis, Adligen und Kriegsverbrechern. Über 500.000 Neubauernfamilien erhielten dadurch erstmals seit hunderten Jahren eigenes Land – es war der soziale Kern des neuen Staates: Junkerland in Bauernhand.
Nach 1990 drehte die Bundesrepublik dieses Rad zurück: Zwar hieß es erst offiziell, die Bodenreform bleibe "unangetastet“ – doch wer nach 1990 erben oder vererben wollte, wurde mit juristischen Spitzfindigkeiten sofort aus seinem Eigentum gedrängt.
Die Begründung: In der DDR habe es sich "nicht um echtes Eigentum, sondern um Nutzungsrechte" gehandelt. Und Nutzungsrechte können nun mal juristisch leichter entzogen werden als Eigentum. Das Ergebnis: Tausende Familien auf dem Gebiet der ehemaligen DDR verloren ihre Häuser.
Doch betroffen waren nicht nur Bauern auf dem Land. Auch in den Städten verloren tausende Familien ihr Zuhause – nicht über Nacht, sondern schleichend, über Jahre hinweg, durch Klagen, Fristen und Gerichtsbeschlüsse.
Es traf Menschen, deren Eltern oder Großeltern nach 1945 Häuser übernommen hatten – oft Ruinen, halb zerstörte Gebäude, die sie mit eigener Kraft wieder aufbauten. Manche hatten sie gekauft, andere gemietet, viele schlicht in jahrzehntelanger Arbeit in Schuss gehalten. Sie renovierten, erweiterten, bauten aus, schufen Werte, wo vorher Trümmer lagen. Diese Häuser wurden zu Familienorten – über Generationen, zu einem Stück gelebter Geschichte.
Und dann kamen die Briefe: "Rückgabeanspruch", "Eigentumsprüfung", "Räumungsbescheid". Viele verloren alles, wofür sie ihr Leben lang gearbeitet hatten. Sie wurden – ganz legal – rausgeklagt und rausgeschmissen.
Im Jahr 2000 erklärte das Bundesverfassungsgericht dieses Vorgehen für rechtens.
Doch 2004 kassierte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) diese Praxis mit einem klaren Urteil:
"Die Enteignung der Bodenreform-Erben verletzt das Eigentumsrecht gemäß Artikel 1 des Ersten Zusatzprotokolls der Menschenrechtskonvention."
(EGMR-Urteil, 22. Januar 2004)
Doch 2004 waren die Enteignungen von vielen tausend DDR-Bürgern bereits über die Bühne gegangen. Auch das europäische Urteil machte Unrecht nicht wieder rückgängig, die Verfahren blieben abgeschlossen und zumeist unangetastet.
Mit anderen Worten: Die Bundesrepublik Deutschland, die BRD, hat zigtausende Menschen im Osten Deutschland enteignet – und damit klar gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen.
💼 Treuhand, Vermögensgesetz, Ausverkauf:
Parallel dazu rollte die Privatisierungsmaschine der (zumindest im Osten) berüchtigten Treuhandanstalt. Sie sollte "Volkseigentum in die Hände der Bürger legen" – tatsächlich wanderte es ausschließlich in die Hände westdeutscher Investoren: der größte, jemals stattgefundene, Raubzug auf deutschem Boden.
Übrigens: Diese Formulierung ist keineswegs übertrieben. Nie zuvor – und nie wieder danach – verfügte ein Staat über so viel gemeinschaftliches Eigentum wie die DDR:
Das geschätzte Volksvermögen der DDR lag bei rund 1,5 Billionen Mark und gehörte laut Verfassung dem Volk der DDR – also seinen Bürgerinnen und Bürgern.
Doch übereignet wurde diesen Bürgern nach 1990 nichts. Kein Anteil, kein Ausgleich, kein symbolischer Besitz. All das, was sie über Jahrzehnte mit eigenen Händen, Köpfen und Steuern aufgebaut hatten – Betriebe, Wohnungen, Infrastrukturen, Energiewerke, Krankenhäuser – ging in die Verwaltung der Treuhand über und verschwanden in westdeutschen Bilanzen.
Dass diese Forderung – das Volksvermögen tatsächlich dem Volk zu überlassen – keine absurde Idee ist, zeigen Beispiele aus dem Ausland: In Moskau etwa wurden nach 1990 sämtliche staatlichen Wohnungen den Mietern übereignet – also schlicht geschenkt. Ab Juli 1991 trat in ganz Russland das Gesetz № 1541-I in Kraft, das Mietern bundesstädtischer, staatlicher oder gewerkschaftlicher Wohnhäuser das Recht gab, ihre Wohnung kostenfrei zu privatisieren. Was dort selbstverständlich war, wurde hierzulande verhindert.
Nie zuvor – und nie wieder danach – hat ein Staat so viele Wohnungen selbst gebaut und besessen wie die DDR. Bis 1990 entstanden dort rund 3 Millionen Neubauwohnungen, insgesamt verwaltete der Staat über 6 Millionen Wohnungen, also etwa 75 % des gesamten Wohnraums. Damit war die DDR – gemessen an der Bevölkerungszahl – der größte Wohnungseigentümer der Welt.
Doch was nach sozialem Fortschritt klang, wurde nach der Einheit zur Beute des Marktes.
Diese Wohnungen waren mehr als Kapital – sie waren nach 1990 plötzlich Gold wert. Und so rissen sich große westdeutsche Wohnbaukonzerne, Banken und Investoren den größten Teil dieses Bestands unter den Nagel – oft für symbolische Beträge oder politische Sonderkonditionen.
Das Ergebnis war paradox: Ende der 1990er Jahre war der Wohnraum im Osten so knapp, dass Kommunen und Länder viele dieser Wohnungen zurückkaufen mussten – häufig zum Zehnfachen dessen, was sie einst eingebracht hatten.
Im Rahmen des großen Raubzugs, oft als "Rückgabe" verschleiert, wurde aber nicht nur ostdeutsches Privateigentum in westdeutsche Hände überführt: Über 8.500 volkseigene Betriebe wurden abgewickelt oder verkauft, häufig weit unter Wert. 95% davon gingen an westdeutsche, bzw. internationale Käufer.
Wohnhäuser, Produktionshallen, Läden, Gärten – alles wurde bewertet, geprüft, verkauft oder rückübertragen.
💰 Die Mär von der Entschädigung:
Ein häufig gehörtes Pseudo-Argument im Zusammenhang der großen Enteignung privaten Besitzes vieler Ostdeutscher nach 1990 lautet, es habe ja "Entschädigungen" gegeben. Sprich: DDR-Bürger seien oft nach Urteilsspruch und Zwangsräumung ihrer Häuser monetär entschädigt worden. Auch das ist – wie so oft – nicht mal die halbe Wahrheit.
Denn was solche Behauptungen gern verschweigen, sind die historischen Fakten.
Und die lauten: Die meisten Entschädigungen, die gezahlt wurden, waren rein symbolischer Natur – Beträge, die in keinem Verhältnis zum tatsächlichen Wert standen.
Oft lagen sie bei zwei bis fünf Prozent des Verkehrswerts, manchmal noch darunter.
„Entschädigungen bewegten sich meist zwischen zwei und fünf Prozent des Verkehrswerts.“
(Morgenpost, 2003)
Für ein Haus, das hunderttausend Mark wert war, bekam der ehemalige Besitzer also vielleicht viertausend. Für ein Stück Land, das einst eine Familie ernährte, den Gegenwert eines Gebrauchtwagens. Das nannte man dann "geregelte Rückübertragung". In Wahrheit war es: staatlich abgesegnete Entwertung und Enteignung.
📉 Die zweite Enteignung:
Im Osten sprach man bald von der "zweiten Enteignung". Im Westen ist das Kapitel bis heute weitgehend unbekannt. Die erste hatte Nazis, Industrielle und Großgrundbesitzer getroffen. Die zweite traf das Volk.
Was juristisch korrekt klang, fühlte sich für die Betroffenen wie Enteignung durch die Hintertür an:
- Häuser gingen an alte Erben (die oft keinerlei Verbindung zum Ort hatten und diese Immobilien oft umgehend zu Geld machten),
- Felder an entfernte Nachfahren (die oft gar nicht mehr in der Landwirtschaft tätig waren),
- Betriebe an westdeutsche Holdingstrukturen (die sich dann jahrelang subventionieren ließen, die Belegschaften in ABM-Maßnahmen führte und die gemolkene Kuh am Ende aufgaben)
Viele verloren nicht nur Besitz, sondern Würde, Vertrauen und Lebenssinn.
Mehrere Fälle endeten in Suiziden – still, namenlos, fernab jeder Schlagzeile.
"Die Bundesregierung hat DDR-Recht missverstanden – und dadurch selbst Unrecht geschaffen."
(Der Spiegel, Nr. 6/2003)
Im westdeutschen Diskurs galt die Rückgabe-Politik als "Wiedergutmachung". Doch was wurde hier wieder gut gemacht – und für wen? Die Betroffenen auf DDR-Gebiet sahen das anders: Für sie war das kein Rechtsstaat, der "ihre DDR" da ablöste, sondern ein kalter Systemwechsel, bei dem alles, was im Osten aufgebaut wurde, entwertet wurde – juristisch, materiell, moralisch.
📜 Die Bilanz einer stillen Katastrophe:
- Über 2,3 Mio. Rückübertragungsanträge wurden nach 1990 gestellt.
- Über 400.000 Gebäude im Osten waren betroffen.
- Rund 1 Million Menschen waren direkt betroffen und litten an den Folgen.
- Entschädigungen (sofern sie gezahlt) waren meist unter 10.000 DM.
- Noch Jahre später bestanden (und bestehen) tausende offene Verfahren.
Das Tragische an dieser Enteignung ist, dass viele Menschen zum zweiten Mal in ihrem Leben alles verloren. Nach dem Zweiten Weltkrieg strandeten hunderttausende Vertriebene und Umsiedler aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten im Gebiet der späteren DDR. Sie kamen aus Breslau, Königsberg, Schlesien oder Pommern – und sie kamen mit nichts. Was sie besessen hatten – Häuser, Höfe, Land, Möbel, Erinnerungen – war verloren. Oft blieb ihnen nur das, was sie am Leib trugen.
Doch sie gaben nicht auf: Mit Fleiß, Handarbeit und Mut bauten sie sich in der DDR ein neues Leben auf. Ein neues Heim, ein Stück Sicherheit, einen bescheidenen Besitz. Viele dieser Menschen wohnten in Häusern, die sie selbst wiederaufgebaut oder in jahrzehntelanger Arbeit erhalten hatten – und die nach 1990 plötzlich nicht mehr ihnen gehören sollten.
Der Grund und Boden, auf dem ihr Leben stand, wurde "rückübertragen" – an Menschen, die oft nie einen Stein daran gesetzt hatten. Das Haus, in dem sie ihre Kinder aufzogen, wurde ihnen juristisch korrekt, aber moralisch kalt, weggenommen – im Namen des Rechts.
Geschichte, die nicht abstrakt ist, weil sie aus Büchern stammt, sondern die etliche ostdeutsche Familien nach wie vor bewegen, da oft am eigenen Leib erlebt. Das hieraus und aus den generellen Geschehnissen nach 1990 eine zumindest gewisse Skepsis, wenn nicht gar Zweifel gegenüber dem sogenannten Rechtsstaat entstanden sind, überrascht daher kaum. Wer erlebt hat, wie Eigentum, das über Jahrzehnte ehrlich erworben und erhalten wurde, plötzlich zur Verhandlungsmasse in fremden Amtsstuben wurde, der verliert Vertrauen – nicht aus Ideologie, sondern aus Erfahrung.
Für viele Ostdeutsche ist diese Geschichte eben keine Fußnote, sondern Teil ihrer eigenen Biografie. Sie haben erlebt, wie Gesetze über Gerechtigkeit gestellt wurden, wie Besitz, Arbeit und Würde unter Aktenbergen verschwanden. Dass daraus bis heute eine gewisse Skepsis gegenüber staatlichen Institutionen und westdeutscher Deutungshoheit geblieben ist, ist keine Trotzreaktion – sondern eine logische Folge.


